Das Leben vom Tod aus betrachten

Anstatt den Tod von unserer Seite des Lebens aus starr zu fixieren, könnten wir das Leben vom Tod her betrachten, den wir nicht als absurdes Ende begreifen, sondern als die Frucht unseres Seins.

Francois Cheng

Francois Cheng sieht das Schicksal als Teil eines großen, im Werden begriffenen Abenteuers und lädt uns ein, das Leben im Licht unseres Todes zu betrachten.

In seinen philosophisch-poetischen Meditationen schöpft er aus den Quellen der westlichen und fernöstlichen Traditionen, um eine neue Sicht einzuüben. Eine Sicht, in der der Tod nicht mehr endgültiges Scheitern bedeutet, sondern unzertrennlich zum Leben dazugehört. 

Durch die Umkehrung der Wahrnehmung menschlicher Existenz, entsteht ein neues Bewusstsein des Todes, das unserem Leben einen Sinn verleiht. 

Können wir uns ein ewiges Leben überhaupt vorstellen? Ihm würde nicht nur das Bewusstsein des Todes fehlen, sondern zugleich alles, was das Leben kostbar macht. Anstatt den Tod von der Seite des Lebens aus wie ein Schreckgespenst anzustarren, können wir das Leben von der anderen Seite, von unserem Tod aus betrachten. 

Das Bewusstsein des Todes lädt uns ein, ein Grundbedürfnis zu befriedigen: das Bedürfnis uns selbst zu überschreiten, das mit der Sehnsucht nach Verwirklichung zusammenhängt. Wir müssen uns nicht mehr einfügen in eine Lebensbahn, die wir als unsere unausweichliche Bedingung ertragen, sondern können mit Leidenschaft ein Lebensprojekt entwerfen. Wir können uns in das Leben hineinwerfen durch eine kreative Beschäftigung, die uns Aussicht auf Verwirklichung eröffnet.

Der Tod als Frucht des Seins. Wie kostbar erscheint durch diesen Perspektivenwechsel das Leben. Wären wir nicht frei, uns dem Leben in seiner Fülle zuzuwenden und es in seiner wahren Schönheit zu begreifen?

Francois Cheng's Betrachtungen in den Fünf Meditationen über den Tod und über das Leben sind eine sanfte, und doch unwiederstehliche Einladung, diese Wende in unserem Blick zu vollziehen. 

Die Eventualität des Todes ist in mein Leben integriert, denn dem Tod in die Augen zu sehen und ihn als Bestandteil des Lebens anzuerkennen, bedeutet, dieses Leben zu erweitern. Opfere ich hingegen schon jetzt dem Tod einen Teil dieses Lebens, aus Angst vor dem Tod und aus der Weigerung heraus, ihn zu akzeptieren, ist dies das beste Mittel, nur ein kleines Stück verstümmelten Lebens zu behalten, das kaum den Namen Leben verdient. Es erscheint paradox: Indem man den Tod von seinem Leben ausschließt, bringt man sich um ein vollständiges Leben, und indem man ihn darin aufnimmt, erweitert und bereichert man sein Leben.

Etty Hillesum

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