Miese Stimmung – Diktatur des postiven Denkens?
Die Psychologisierung des Lebens (E. Illouz) erlaubt es dem Menschen, sich endlos mit dem interessantesten Ereignis seit dem Urknall zu beschäftigen: sich selbst. Ein psychologischer Blick auf unser Leben ist immer Erkenntnis und Ausrede zugleich.
Wir haben eine Kultur der therapeutischen Selbsterforschung und Selbstoptimierung entwickelt, als sei die Psyche transparent, erkennbar und nach Belieben zu manipulieren. Der Druck, glücklich erscheinen zu müssen und ein authentisches, einzigartiges und anregendes Selbst zu pflegen, hat im Zeitalter der Selbstoptimierung pathologische Züge angenommen.
Als Schattenseite der Selbstoptimierung-Anstrengungen tauchen neue Formen der Unzufriedenheit und Frustration auf. Das psychische Allgemeinbefinden ist schlecht und die Stimmung vieler Menschen auch. Wenn es uns nicht gelingt, uns gut zu fühlen, ist es unsere eigene Schuld. Schlechte Stimmung wird zur Krankheit erklärt und ist damit individuelles Problem jedes Einzelnen. Dabei bedingen sich Zeitgeist, Kultur, Weltverständnis, Lebensentwurf und schlechte Stimmungen gegenseitig.
Noch nie konnten wir angeblich so leicht unser Glück finden, wenn wir es nur wollen. Es liegt in unserer Hand, so das Diktat des positiven Denkens. Wenn Selbstoptimierung Pflicht wird, sind Depression und Burnout die Konsequenz, stellt A. Retzer in seiner Streitschrift gegen das positive Denken fest. Er setzt gefährliche Mythen außer Kraft, beendet falsche Hoffnungen, und erklärt den Sinn von Angst und Zweifel. Er zeigt, was man aus schlechter Stimmung machen kann und eröffnet damit Möglichkeiten für eine realistische Selbsteinschätzung und Authentizität. Sein Essay macht Mut, den eigenen Reserven, Rückschlägen und Vorstößen mehr zu vertrauen als den Programmen, Pillen und Propheten der Glücks- und Erfolgsindustrie.